Impulsreferat zur Diskussion im besetzten Audimax der Universität Hamburg, 01.12.09
„Die Forderung nach Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich“, so beginnt Adorno seine Ausführungen zur „Erziehung zur Mündigkeit“ und führt weiter aus: „Selbstverschuldet sei … [nach Kant in der „Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?] … die Unmündigkeit … ‚wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines Anderen zu bedienen‘ … Demokratie beruht auf der Willensbildung eines jeden Einzelnen … soll dabei nicht Unvernunft resultieren, so ist die Fähigkeit und der Mut jedes Einzelnen, sich seines Verstandes zu bedienen, vorausgesetzt“. Doch ist laut Adorno die Voraussetzung der Mündigkeit, von der eine freie Gesellschaft abhängt, durch die Unfreiheit der Gesellschaft determiniert.
Dem möchte ich hinzufügen, dass die Unfreiheit der Gesellschaft nunmehr stärker mit dem Argument der wirtschaftlichen Sachzwänge des Gemeinwesens und jedes Einzelnen gerechtfertigt wird. So steht in der öffentlichen Diskussion um den Bologna-Prozess vor allem die Frage im Fordergrund, ob die neuen Abschlüsse von der Wirtschaft angenommen werden, weiter, ob der Standort Deutschland auf dem internationalen Markt mit seiner Forschung bestehen kann und wie die Absolventen sich innerhalb der herrschenden ökonomischen Verhältnisse durch die Reform besser zu behaupten lernen. Bekommen die Studierenden das richtige Rüstzeug für die Wettbewerbsteilnahme auf den Weg, sind die Wettbewerbschancen gerecht verteilt. Dabei kommt von vielen Seiten Kritik, dass dieses Ziel nicht durch die neuen Strukturen an den Universitäten erreicht wird, es müsse also Nachbesserungen geben, weniger Lehrstoff in der verkürzten Zeit, vielleicht eine Bafög-Erhöhung, um die soziale Ausgrenzung zu dämpfen. Lenzen fordert gar die Abschaffung der Studiengebühren. Es wird an einer Ausweitung der Stipendien gearbeitet, an denen sich die Wirtschaft stärker beteiligen soll. Studiengebühren, so deren Befürworter, sollen nicht sozial ausgrenzen, sondern den Studenten eine Handhabe gegenüber der Institution Universität geben, schließlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Die Nachfrage nach beruflicher Orientierung und sozialer Absicherung ist in Anbetracht der herrschenden sozialen Ungleichheit außerordentlich groß. Jeder soll die gleichen Chancen haben, in dem herrschenden System aufzusteigen. Das heißt, der Einzelne soll für den Wettbewerb geschult werden, so dass möglichst jeder die Chance erhält, in ihm zu bestehen. Es sollen Anreize geschaffen werden, sich zu bilden und zu forschen, denn ohne diesen Motor sei Stillstand zu befürchten. Für die Forschung werden Drittmittel als Indikator für gesellschaftliche Relevanz angesehen, Nachfrage soll das Angebot stärker steuern und somit Forschung gezielter und effizienter gestalten. Politiker, Professoren und Studenten sind sich nahezu einig, dass es einer Reform der Reform bedarf, um die Wettbewerbsvoraussetzungen zu verbessern. Überfüllte Räume, zu wenig Personal, zu viel Verwaltung; als zu Ineffizient wird die derzeitige Situation betrachtet. Man kann in der neuen Struktur seine Wettbewerbschancen nicht verbessern, sie verschlechtern sich sogar, darum, so die Wahrnehmung vieler, gibt es Proteste und Besetzungen.
Doch ob das Bachelor-/Masterstudium der „Erziehung zur Mündigkeit“ verpflichtet ist, wie es im Leitbild der Universität Hamburg noch zu lesen ist, wird öffentlich kaum diskutiert. Wir erinnern uns: „Die Forderung nach Mündigkeit scheint in einer Demokratie selbstverständlich“, doch wird sie außerhalb der Studierendenschaft kaum wahrgenommen, ja sie scheint auch in Anbetracht der ökonomischen Sachzwänge alles andere als selbstverständlich. So gibt es Leserschreiben, die folgendes formulieren: „Mein Sohn ist jetzt an einer Uni, an der es viele Chinesen gibt. Die protestieren nicht, die arbeiten.“ Mit dieser Kritik müssen wir uns auseinandersetzen, denn sie ist gesellschaftliche Realität der Masse der Bevölkerung. Wir sehen uns derzeit der Gefahr selbstverschuldeter Unmündigkeit mehr den je gegenüber; um diese abzuwenden, bedarf es eben jener Entschließung, jenes Mutes, sich ohne Leitung eines Anderen seines Verstandes zu bedienen, um sich der Restrektionen eines eingetrichterten Bildungskanons zu erwehren, um Inhalte kritisch zu reflektieren und neue Inhalte zu erarbeiten.
Es sollte vielmehr die Frage gestellt werden: Wie frei ist Kunst und Wissenschaft in der Gesellschaft. Wofür werden die Wissenschaften und schließlich die universitäre Bildung eingesetzt, ist Profitmaximierung und Wettbewerb ein gesellschaftliches Interesse. Ergo: Ist die Ausrichtung der Forschung und Bildung auf Wettbewerb und Profitmaximierung, sprich auf die herrschende Doktrin, im Interesse der gesamten Gesellschaft und wird sie dem Grundsatz der Freiheit gerecht. Was ist das „wahre Amt und Ziel der Wissenschaft“, dieser Frage entzieht man sich auf nahezu allen Ebenen. Nun ist es an uns, die neurotische gesellschaftliche Abwehr dieser Fragestellung zu analysieren und die Pathologie dieser Ignoranz zu deuten und öffentlich zu machen.
Es geht nicht um Studienbedingungen, sondern um Studienziele und Studieninhalte. Die Diskussion um die Studienbedingungen ähnelt einer Diskussion darüber, wie man die gesunde Entwicklung eines Kindes am besten unterbinden könnte, ob durch rohe physische oder subtile psychische Gewalt, selbstverständlich in der Annahme, etwas Positives zu erwirken.
Das selbstständige Lernen, die freie Wahl der Vorlesungen und Seminare, wird durch Druck unterbunden; also wird der Entschluss und der Mut, sich seines Verstandes zu bedienen, nicht nur erschwert, wie dies bisher durch die allerorts lockende Kultur- und Meinungsindustrie geschieht, sondern verhindert. Damit wird entweder die Selbstverständlichkeit der Forderung nach Mündigkeit in der Demokratie oder aber die Demokratie selbst in Frage gestellt.
Wissenschaft und Bildung sind durch diesen Prozess, so die Hypothese, durch Gefolgschaft gegenüber den Interessen von Wirtschaft und Politik, am Werke ihrer Selbstzerstörung.
„Was die eisernen Faschisten heuchlerisch anpreisen und die anpassungsfähigen Experten der Humanität naiv durchsetzten: die rastlose Selbstzerstörung der Aufklärung, zwingt das Denken dazu, sich auch die letzte Arglosigkeit gegenüber den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu verbieten“ konstatierten Adorno und Horkheimer in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“. Sie forderten damit, den Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes zu widerstehen und standen so für die unabhängige und gesellschaftskritische Wissenschaft ein. Doch scheint dies in unserer derzeitigen Gesellschaftsform kaum möglich, die Bedingung hierfür ist, so fährt Adorno fort „… Wenn die Öffentlichkeit einen Zustand erreicht hat, in dem unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird, so muß der Versuch, solcher Depravation [Verderbnis] auf die Spur zukommen, den geltenden sprachlichen und gedanklichen Anforderungen Gefolgschaft versagen …“ Genau das Gegenteil erleben wir, wenn ein Universitätspräsident zum „Hochschulmanager“ des Jahres gekürt wird. Die Gefahr, so Horkheimer und Adorno, besteht darin, dass die Wissenschaft, sobald sie aus ihrem kritischen Element gegenüber Gewohnheiten und Richtungen des Zeitgeistes heraustritt, als bloßes Mittel in dem Dienst eines Bestehenden agiert und somit wider Willen dazu beiträgt, sich negativ, gar zerstörerisch auszuwirken. Die Frage ist hierbei: Wie wirkt sich die Abhängigkeit von Drittmitteln der demokratisch nicht legitimierten Privatwirtschaft auf die Freiheit der Forschung und den Pluralismus in der Gesellschaft aus. Gibt es überhaupt eine kritische Wissenschaft, die mit den Prinzipen der Ökonomie, nach denen die Studenten der Zukunft sich bilden sollen, bestehen kann.
Gegenüber dieser Kritik an den timokratischen Verhältnissen, also der Herrschaft der Angesehenen und Besitzenden an der Universität, könnte man einwenden, der aufgeklärte Intellekt werde sich schon zu verteidigen wissen. Dem muss energisch widersprochen werden, denn Intellekt und Bildung besitzen keine Moral. Dazu Horkheimer und Adorno: „Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt … Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung. Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert“.
Interessant ist bei dem derzeitigen Prozess, dass die Geistes-, Erziehungs- und Rechtswissenschaften in Forschung und Lehre die gleichen Restriktionen auferlegt bekommen, wie die Natur- und Wirtschaftswissenschaften. Um den Druck zu erhöhen, sich dem Diktat der Sachzwänge der herrschenden Philosophie zu unterwerfen, womit die kritische Distanz eingebüßt zu werden droht, ist die Politik mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung dazu bereit, Mittel zu streichen. Vernunft soll als Instrument unter die Leitung des Bestehenden gestellt werden, womit die Forderung nach Mündigkeit negiert wird; Demokratie, welche nur durch mündige Menschen aufrechterhalten werden kann, steht hier dem wirtschaftlichen und technischen Fortschritt scheinbar im Wege. Die Wahrnehmung der Gesellschaft ist dabei keine ignorante, sie fordert, dass sich die Geisteswissenschaften den gesellschaftlichen Sachzwängen unterordnen, wie sie selbst es tun muss, da ihr die Partizipation am kritischen Geist durch die Propaganda der Kulturindustrie kaum ermöglicht worden ist. Aber auch die intellektuelle Abschottung, Mutlosigkeit und Willfährigkeit gegenüber dem System von Seiten der Vertreter dieser Disziplinen führt unweigerlich zum Ausverkauf der Universitäten, den sie durch mangelnde Gesellschafts- und Systemkritik selbst mit zu verantworten haben. Hier fordert die Gesellschaft Teilhabe, die ihr bisher versagt blieb, da die Vertreter der Geisteswissenschaften das kritische Denken in kleinen Zirkeln betrieben und sich nicht trauten, gegen den dominierenden Zeitgeist wirksam zu schreiben und zu sprechen, ja sich sogar von ihm vereinnahmen ließen. Nicht nur die Studenten haben sich in Anpassung geübt. Anpassung wird abverlangt und durch die Kulturindustrie erleichtert, in dem sie künstliche Nischen der Pseudoindividualität schafft, Gruppen also, die sich als Absatzmarkt für jeweils spezifische Kleidung und Musik eignen. Damit sind wir Teil dessen, was wir hier bekämpfen, Teil des unkritischen Geistes geworden. Die Vereinnahmung der Universität durch das Prinzip der Ökonomie scheint somit die Folge einer Entwicklung zu sein, in der man die Generation 68 mit Kulturwaren und einer liberalisierten Sexualmoral besänftigte. Der Preis dafür ist die Akzeptanz des Bestehenden, wie wir sie von den Organisationen und Parteien, welche sich aus dieser Generation heraus entwickelten, lesen, hören und erfahren können.
Wenn wir weiterhin der Auffassung bleiben, die Gesellschaft sollte Forschung und Lehre Freiheit gegenüber den gesellschaftlichen Sachzwängen, die unbestreitbar bestehen, ermöglichen, dann kommen wir nicht umhin, der Gesellschaft die Teilhabe am kritischen Geist zu gewähren. Dies kann nur geschehen, indem wir nicht nur einen Halt des Neoliberalismus vor unserem Bildungs- und Wissenschaftsideal fordern, sondern indem wir weitergehend eine Veränderung der bestehenden timokratischen Gesellschaftsform in Betracht ziehen, beziehungsweise fordern.
Viele Studenten erheben nunmehr nach 41 Jahren endlich Einspruch. Der Scheinfrieden zwischen dem Bestehenden und den Studierenden muss hiermit aufgehoben werden, wir müssen Kultur- und Gesellschaftskritik üben, sonst ist die Zurichtung der Wissenschaft zum unkritischen intellektuellen Werkzeug unvermeidbar und auch gesellschaftlich legitim.
Dienstag, 1. Dezember 2009
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Sehr guter Text. Wenn ein Diskurs mit den "Leuten von oben" anstelle von Polemik und Schuldzuweisungen in dieser Form stattfinden könnte, wäre viel erreicht.
AntwortenLöschen"Es geht nicht um Studienbedingungen, sondern um Studienziele und Studieninhalte. Die Diskussion um die Studienbedingungen ähnelt einer Diskussion darüber, wie man die gesunde Entwicklung eines Kindes am besten unterbinden könnte, ob durch rohe physische oder subtile psychische Gewalt, selbstverständlich in der Annahme, etwas Positives zu erwirken."
AntwortenLöschenDas ist ziemlicher Unsinn.
Die Studienbedingungen stehen nämlich mit den Studienziele und Studieninhalte in einem ganz engen Zusammenhang. Das eine geht nicht ohne das andere. Den Zusammenhang haben bereits die Lehrenden bei der Einführung des BA/MA-Systems aufgelöst, indem sie versäumt haben, sich zunächst über Ziele Gedanken zu machen, die Studienbedingungen völlig unberücksichtigt ließen und eine zu kleine Tüte mit so viel Inhalt vollgepropft haben, dass sie platzen musste.
Die Studierenden wären jetzt diejenigen, die eine Diskussion von Studienbedingungen, -zielen und -inhalten im Zusammenhang wieder herbeiführen müssten. Darin steckt eine Menge Potential für eine neue Bewegung.
Bei der Kritik an der Konzentration auf die Studienbedingungen geht es meines Erachtens darum, dass Form und Inhalt derzeit häufig verwechselt werden; die Form richtet sich nach dem Inhalt. Dass es zu BaMa kommen konnte ist das Symptom neoliberalen Denkens in der Gesellschaft; also die Wurzel aus der die restrektiven Studienbedingungen erwachsen. Schlägt man nun immer die Blüten und Blätter der Pflanze ab (schlechte Studienbedingungen), ohne die Wurzel (Neoliberalismus) anzugreifen, wird die Pflanze schnell wieder Blätter und Blüten aus der kranken Wurzel hervorbringen. Bei dem Beispiel Kindererziehung: will man das Kind zu einem selbst denkeneden vernünftigen Menschen heranwachsen lassen oder zu einem gehrsamen Untertan, also Ziel und Inhalt nicht die Bedingungen sollten das Thema sein. Es sind sehr reife Persönlichkeiten aus armen Haushalten gekommen. Ein anderes Beispiel; Moni sind wir los, die nächste Blüte Lenzen kommt, da die Ursachen nicht behoben worden sind. Die Wurzel ist die Macht des Hochschulrates, der u.a. aus Wirtschaftsvertretern besteht; eine Ausgeburt des Neoliberlismus also.
AntwortenLöschen